„Wild und fürsorglich“

„Wild und fürsorglich“

Über Brian Lukes Vorschläge zu einer nichtpatriarchalen Tierbefreiungsethik

Warum soll man sich im Jahr 2006 noch über einen Artikel Gedanken machen, der 1995 geschrieben wurde? Ist er nicht schon überholt? Ich finde ganz im Gegenteil. Je mehr ich von der Tierbefreiungsbewegung sehe, und je öfter ich den Text lese, desto besser gefällt er mir.

Auf den ersten Blick war ich überrascht, in dem Sammelband „Animals and Women. Feminist Theoretical Explorations“ (Tiere und Frauen, Feministisch-theoretische Untersuchungen), herausgegeben von Carol J. Adams und Josephine Donovan (Duke University Press, Durham – London 1995), einen Beitrag von einem Mann zu finden: „Taming Ourselves or Going Feral? Toward a Nonpatriarchal Metaethic of Animal Liberation“ (Zähmen wir uns oder werden wir wild? Für eine nichtpatriachale Metaethik der Tierbefreiung) von Brian Luke.

Ja, warum denn nicht? Schließlich leiden nicht nur Frauen unter dem Patriarchat und seinen Wertvorstellungen, und nicht nur sie haben viel dagegen vorzubringen. Feminismus ist schließlich keine Interessensgruppe zur Durchsetzung einer ausgewogenen Beteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Ich kann auf die Teilnahme von Frauen im Militär gern verzichten, aber das gilt auch für die gesamte Institution. Es ist immer sehr traurig, wenn Frauen es als Erfolg empfinden, endlich bei etwas Brutalem, Ausbeuterischem, Schrecklichem mitzumachen, nur weil sie bisher – aus den falschen Gründen – davon ausgeschlossen waren, z. B. bei der Jagd oder bei groben, umweltzerstörerischen Sportarten, bei reaktionärer Politik oder Kriegstreiberei. Bei der Kritik am Patriarchat geht es um die grundsätzliche Ablehnung von Gewalt und Ausbeutung, Macht und Unterdrückung, und nicht darum, dass die Schrecken besser verteilt werden.

Gut, und was kümmert uns das alles eigentlich, wenn wir uns für nichtmenschliche Tiere engagieren? Führt das nicht zu weit, was soll uns eine „nichtpatriarchalische Metaethik“ im politischen Alltag nützen? Meiner Meinung nach sehr viel: weil nämlich patriarchale Wertvorstellungen und Hierarchien ein Teil des Problems sind und viel Tierunterdrückung erst ermöglichen, wie zum Beispiel der Gedanke, dass es wichtigere Lebewesen – menschliche, männliche, weiße – gibt und unwichtigere – nichtmenschliche, weibliche, nichtweiße -, mit denen man ruhig Schlitten fahren kann. Also wird es uns wahrscheinlich nicht weit bringen, wenn wir mit diesen gefährlichen Vorstellungen weiter arbeiten und hoffen, dass schon nichts passieren wird, weil wir doch die Guten sind. Und andererseits gewinnen wir mit dieser solidarischen Ethik eine realistische und positive Handlungsperspektive, in der Sympathie und Autonomie im Mittelpunkt stehen und nicht Misstrauen und Repression.

Diese peinlichen Gefühle

Als erstes, grundsätzliches Problem erkennt Brian Luke, wie patriarchalisch die Höherbewertung der „Vernunft“ im Gegensatz zum „Gefühl“ ist. Regan und Singer betonen in ihren Arbeiten ständig, dass Tierrecht eine „rationale“ Angelegenheit ist, um dem Anliegen Respektabilität und Reputation zu verschaffen. Sie verwehren sich gegen Gefühle und behaupten, dass uns nur rationale Analysen zusammengeführt haben.

Was ist eigentlich gegen „Gefühl“ zu sagen? „Vernunft – Gefühl“ ist eines der klassischen Gegensatzpaare des abendländischen Denkens, wie „Kultur – Natur“ oder „männlich – weiblich“ und hat einen schlechten Ruf, weil es als typisch weiblich, „irrational“ und instinktgesteuert gilt: Ungerührt von aller kritischen Philosophie herrscht offenbar weiter das Klischee von den weiblichen Wesen, die bekanntlich nicht so hell sind und so klar denken wie Männer, und sich dauernd in irgendetwas verrennen, wie es eben ihrem triebhaften, hormongebeutelten Wesen entspricht – sie kriegen ja auch dauernd Kinder –, aufgrund unzuverlässiger Gefühle, die sie zu peinlichen, sentimentalen, womöglich hysterischen Ausbrüchen treiben. Mit so etwas möchte man doch als vernunftbestimmter, logisch denkender Herr, der sich nur an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert, nichts zu tun haben, das zieht einen ja nur hinunter.

Dass ich nicht lache! Gefühle sind meistens erst der Auslöser politischen Handelns und Motiv des Widerstands. Ohne Mitgefühl, Sympathie und Solidarität gäbe es kaum eine Politik, die über die unmittelbaren Interessenslagen hinausgeht. Gefühle wie „meine Nachbarn kann man doch nicht erschlagen/deportieren/vergasen“, „AKWs sind gefährlich“, „Kinderarbeit ist schändlich“, „Gewalt in der Familie ist furchtbar“, „Armut ist abzulehnen“, „diese Tiere dürfen nicht gequält, getötet und gegessen werden“ haben viel in Gang gesetzt. Gefühl und Interesse erwecken oft erst die Bereitschaft, sich mit einem Problem zu befassen. Tom Regan schreibt in einem autobiographischen Text selbst, dass er aus Vernunftgründen Vegetarier wurde, aber erst der Tod seines Hundes sein Herz berührte.

Sicherheitshalber möchte ich anmerken, dass das Zulassen von Gefühlen nicht bedeutet, auf die Vernunft zu verzichten und sich in Sentimentalitäten zu verlieren oder vor radikalen Schlussfolgerungen zurückzuschrecken. Der Punkt ist, nicht einen bedeutenden Teil unseres Charakters zu unterdrücken. Und die Fürsorge und Sympathie nicht gering zu schätzen.

Wenn Wissenschaft draufsteht …

Sehr angebracht finde ich Brian Lukes kritische Bemerkungen über den Wissenschaftsbetrieb, ich bin über jede unkritische Begeisterung für Wissenschaft als solche sehr beunruhigt. Nur weil eine Person einen akademischen Grad hat und sich bedeutungsschwanger äußert, hat sie nicht den ganzen Tag Recht. Wenn man nicht ständig mitdenkt, wer in wessen Interesse oder auf wessen Kosten wen oder was erforscht und was das für Folgen haben wird, hat man nichts aus Adornos Faschismusanalysen oder den psychologischen Experimenten über Autoritätsgläubigkeit und Gruppendruck, wie dem Milgram-Experiment, gelernt. Warum sollten im patriarchalen kapitalistischen System ausgerechnet Universitäten und Forschungseinrichtungen herrschaftsfreie Räume sein?

Hierarchie und soziale Kontrolle

Brian Luke arbeitete Anfang der neunziger Jahre als Assistenzprofessor an einer US-amerikanischen Universität und konnte sich nicht damit anfreunden, dass ein Großteil des akademischen Diskurses als „Kampf“ stattfindet, indem die VertreterInnen verschiedener Positionen nur bemüht sind, die Schwachpunkte im anderen Gedankengebäude zu finden. Warren nennt diese Methode so plastisch die „Gladiator Theory of Truth“ und bezweifelt, dass sie der einzige und beste Weg ist, die Wahrheit herauszufinden. Viel öfter wird sie dabei verzerrt und die Kreativität der WissenschaftlerInnen gelähmt. Identität aufzubauen, indem man seinen eigenen Wert erhöht, wenn man den anderen abwertet, ist besonders charakteristisch für die männliche Entwicklung im Patriarchat.

Hierarchische Strukturen begünstigen den Aufstieg der systemkonformen Persönlichkeiten und Ansichten und erfordern den Ausschluss abweichender Personen und Positionen. Hier treffen wir wieder auf den Punkt, dass es nicht einmal taktisch sehr geschickt für die Tierbefreiungsbewegung wäre, sich auf patriarchale Strukturen zu verlassen: Tierbefreiung ist bei weitem keine Mehrheitsmeinung, auch nicht im akademischen Bereich. Wenige von uns nehmen hohe Positionen im System ein, wir sind inhaltlich und von unseren Positionen her eher diejenigen, die ausgegrenzt und niedergewalzt werden, und da sollen wir uns an die patriarchale Macht anbiedern und mit Mechanismen sozialer Kontrolle liebäugeln?

Nur keine Unterschiede!

Regan, Singer und auch andere legen in ihren Arbeiten Ethik als möglichst allgemeine und universelle Prinzipien an. Die ausgearbeiteten Regeln sollen für alle Menschen und alle Situationen gelten. Der Haken dabei ist: Allgemeine Regeln abstrahieren sehr stark und führen letztlich weit weg von den realen Menschen und realen Tieren. Die unterdrückten Tiere sind aber keine „Fälle“, sondern Individuen in bestimmten Situationen. Auch die Menschen sind nicht gleich, sondern handeln aus verschiedenen Gründen und Notwendigkeiten heraus. Bei einem zu hohen Abstraktionsniveau stehen die Lebewesen plötzlich ohne ihre persönlichen, geschichtlichen, wirtschaftlichen, geographischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge da, und das ist doch genau die Standardisierung, die wir vermeiden wollten.

Ich finde es persönlich auch ergiebiger, nicht die konstruierten Beispiele der „Eine Größe passt allen“-Ethik zu diskutieren, in denen die bekannten Rettungsboote, Bergwerke und Eskimos vorkommen, sondern über konkrete Menschen, Tiere und Machtverhältnisse zu sprechen.

Sympathien für die Tiere

Kurz gesagt, Brian Luke verwehrt sich gegen alle Anflüge sozialer Kontrolle und Andeutungen, dass die Menschen „gezähmt“ werden und ihr Verhalten kontrolliert werden muss, sondern er schlägt vor, von ihren ohnehin vorhandenen Sympathien für Tiere auszugehen. Wieso Sympathien? Sieht es nicht, angesichts von Massentierhaltung und einer riesigen Tierversuchsindustrie, ganz anders aus? Nicht unbedingt, wenn man bedenkt, was für große Anstrengungen von der Tierausbeutungsindustrie betrieben werden, um die Menschen weiter zu täuschen.

Zur Aufrechterhaltung der Tierausbeutung ist es notwendig,

• dass keine persönliche Verantwortung am Tod von Tieren wahrgenommen wird,

• der angerichtete Schaden verleugnet wird,

• den Tieren keine Subjekthaftigkeit zuge standen wird und

• die Sympathien für die Tiere systematisch untergraben werden.

Niemand ist persönlich verantwortlich

Von den alten Verdrängungsmechanismen, die den Göttern wegen ihrer Forderung nach Opfern die Verantwortung zugeschoben haben, oder ihrer Erlaubnis, wie in der Bibelinterpretation von „macht euch die Erde untertan“ ziehen heute mehr die säkularen Ausflüchte: Die Massentierhalter machen die „Nachfrage der Konsumenten“ verantwortlich, die einzelnen Fleischesser sagen wiederum, dass ihre individuelle Entscheidung, kein Fleisch zu essen, nicht den gesamten Markt beeinflussen wird, also ist niemand schuld.

Der angerichtete Schaden wird verleugnet

Die Tierfabriken und die Tierversuchsindustrie sind stark bemüht, ihre Produktionsweise und das Leiden der Tiere vor den KonsumentInnen und der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Labors werden möglichst nicht gezeigt, nichts soll herausdringen, sogar die Sprachregelung vermeidet „Schmerz“ und „Angst“ und „Leiden“. Luke berichtet von einem Fall, in dem die Pro-Tierversuchs-Lobby einen Beitrag in einer Fernsehsendung verhinderte, obwohl der Produzent die Notwendigkeit von Tierversuchen vorführen wollte. Schon die Erwähnung wäre zuviel gewesen.

Auch die Massentierhalter lügen über den Schaden, den sie verursachen. Sie behaupten allen Ernstes, dass die Tiere in ihren Gefängnissen ein sicheres, ruhiges Leben führen. Und in der Werbung sieht man nur glückliche Tiere auf kleinen Bauernhöfen, die sich geradezu darauf freuen, vom Menschen genutzt zu werden. Natürlich ist auch nie von „Umbringen“ und „Töten“ die Rede, in den USA ersetzt allmählich der Euphemismus „Fleischfabrik“ das Wort „Schlachthaus“.

Den Tieren wird kein Subjektcharakter zugestanden

Der Philosoph Descartes entwickelte im 17. Jahrhundert die Vorstellung, dass Tiere nur komplizierte Maschinen sind, also sind ihre Schmerzensschreie auch nur als ein Quietschen des Mechanismus zu deuten. Eine modernere, aber vergleichbare Version wird in den Labors und Tierfabriken praktiziert, die Tiere gelten als Teil der Ausstattung, Teil der Produktion, Teil des Inventars, als Ernte und Ertrag, aber auf keinen Fall als leidensfähige Lebewesen.

Die Sympathien für Tiere werden ausradiert

Manchmal, wenn die allgemeinen Verdrängungsmechanismen nicht greifen, wenn diejenigen, die den Tieren Schaden zufügen, zuviel gesehen haben oder Menschen, die neu in der Tierausbeutung sind, noch nicht die „richtige“ Denkweise internalisieren konnten, werden weitergehende Maßnahmen notwendig:

Im Labor hilft beispielsweise eine ganze Gruppe angetrunkener Angestellter, ein bestimmtes Tier zu töten. Oder Kinder werden gezwungen, Fleisch zu essen, obwohl ihnen davor graut. Für die Arbeit in Schlachthäusern und in der Verpackungsindustrie werden die ökonomisch schwächsten Arbeitskräfte am Markt eingesetzt. In den Versuchslabors müssen die Angestellten die erwünschten Versuche durchführen, wenn sie ihren Job behalten oder Karriere machen wollen. An den Universitäten müssen die StudentInnen ihre Sezierübungen absolvieren, wenn sie ihr Studium abschließen wollen.

Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene wird den Menschen mit hohem Werbeaufwand eingeredet, dass das Leben und Wohlergehen ihrer Familien davon abhängt, dass sie Pharmaprodukte, Fleisch und Milch konsumieren.

Wild werden

Dass derartig viele verschiedene Mechanismen zur Vorbeugung und Verhinderung der Sympathie für Tiere entwickelt wurden, zeigt doch, dass die Tierausbeutungsindustrie den Widerstand der Menschen immer als eine potentielle Bedrohung betrachtet. Und wenn diese Industrien nicht davon ausgehen, dass die Tiere den Menschen gleichgültig sind, und viel Geld dafür ausgeben, die menschlichen Sympathien für Tiere an allen Ecken und Enden zu unterdrücken, warum sollen wir in der Bewegung das eigentlich glauben?

Brian Luke regt also an, dass wir uns nicht nur an Logik und konsequente Argumentationsketten halten, sondern auch an die gefühlsmäßige Bindung zu den Tieren erinnern und die künstlich aufgerichteten Hindernisse zu ihnen niederreißen. Das ist ein konkreter Prozess, zu dem Beziehungen zu unversehrten, freien Tieren gehören, und auch die direkte Wahrnehmung der Leiden der Tiere in den Tierfabriken und Versuchslabors.

Statt soziale Kontrolle auszuüben, wollen wir die persönliche Autonomie der Menschen vergrößern und verhindern, dass sie mit falschen Informationen zugeschüttet werden.

Wir lassen uns nicht länger zahm halten

Alle Menschen, sowohl VivisektorInnen wie auch VeganerInnen, waren diesen sympathiezerstörenden Mechanismen ausgesetzt. Wie lange und in welchem Ausmaß wir uns ihnen fügen, ist keine Frage der Vernunft. Es ist angesichts der gesellschaftlichen Erwartungen und Sanktionen durchaus rational, unsere Gefühle zu unterdrücken und die Tierausbeutung zu unterstützen, aber unsere Gefühle zu verteidigen und die Tierausbeutung zu kritisieren, ist auch rational, und wir leiden darunter, dass wir unsere natürliche Bindung an die Tiere verlieren. Also ist es nicht unsere Aufgabe, die Rationalität anderer Menschen zu beurteilen, sondern wir müssen ehrlich über die Einsamkeit und Isolation in der anthropozentrischen Gesellschaft sprechen, und welcher Schaden jeder Person zugefügt wird, die Tieren etwas antun soll. Wir müssen die Sympathie und Fürsorglichkeit der Menschen vor den Herrschaftszwängen und falschen Informationen beschützen.

Es geht in einer nichtpatriarchalen Tierbefreiungsethik also nicht darum zu zähmen, nicht uns selbst und auch nicht unsere angeblich „natürliche“ ausbeuterische Haltung gegenüber Tieren. Vielmehr geht es darum, sich nicht länger zur Unterstützung des Anthropozentrismus zähmen zu lassen.

Halbwild an den Grenzen der Zivilisation

Zum Abschluss ein Zitat des Autors: „In der westlichen Welt gehört es für die meisten von uns zur Tierbefreiung dazu, unsere frühere Domestizierung zum Fleischessen, zur Abhängigkeit von der modernen Medizin, zum menschlichen Chauvinismus etc. abzulehnen. Wenn wir unser offiziell eingeschränktes Mitgefühl für Tiere weiter behaupten und vergrößern, sind wir in der Position wilder Tiere, die früher domestiziert waren, aber nun halbwild an den Grenzen der hierarchischen Zivilisation leben.“

Ja, wenn das so ist, lasst uns doch wild werden!

von Susi Harringer

Dieser Text erschien in „Tierbefreiung – Das Aktuelle Tierrechtsmagazin.“
Herausgegeben von „die tierbefreier e.V.“, Ausgabe 51, Juni 2006.

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