Die Geburt der Tierrechtsidee
Einige Menschen begannen damals, die uralte Hierarchie zwischen Menschen und Tieren in Frage zu stellen und an der streng gezogenen Mensch-Tier-Grenze zu rütteln. Die auffallend ähnlichen Leidensäußerungen der nichtmenschlichen Tiere stellten diese Grenze in Frage. Warum sollte das Prinzip der Gerechtigkeit („Gleiches gleich zu bewerten/zu behandeln“) nur für die menschliche Spezies gelten? Müsste dieses nicht auch für nichtmenschliche Lebewesen dort gelten, wo sie uns gleich sind? Das Interesse jedenfalls, schmerzfrei und eigenbestimmt zu leben, ist unbestreitbar auch bei nichtmenschlichen Tieren vorhanden. Also müssten sie dort auch gleich behandelt werden. Die Idee der Tierrechte war geboren. Dieser Prozeß der Gleichberechtigung hatte einige Vorläufer in der Geschichte. Auch Sklaven, Menschen nichtweißer Hautfarbe und Frauen wurden grundlegende Rechte aufgrund bestimmter Merkmale vorenthalten. Die Gleichheit ihrer Interessen wurde geleugnet. Wurde aber erst einmal erkannt, dass bestimmte Merkmale (Volkszugehörigkeit, Hautfarbe, Geschlechtszugehörigkeit) keine Minderwertigkeit bedeuten, mußten auch gleiche Rechte zugestanden werden. Schon so manche tausendjährige Überzeugung war unter den Kategorien Gleichheit und Gerechtigkeit zerbrochen. Die nichtmenschliche Spezieszugehörigkeit von Tieren ist genausowenig ein Grund für die Verweigerung von Grundrechten wie z.B. die nicht-männliche Geschlechtszugehörigkeit. Gleichberechtigung bedeutet, keine Wertunterschiede aufgrund bestimmter Merkmale oder Fähigkeiten zu postulieren. Ein tierliches Individuum kann nicht Goethe lesen, aber das Ausstechen der Augen schmerzt ihm/ihr genauso wie einem Menschen; daraus folgt: das Ausstechen der Augen ist bei Mensch und nichtmenschlichem Tier zu unterlassen, egal ob mit diesen Augen Goethe gelesen wird und egal, welchem Zweck das Ausstechen der Augen dient. Schließt man aber die nichtmenschlichen Tiere aus dem Gleichheitsgrundsatz aus, verabschiedet man sich von der Gültigkeit des Gleichheitsgrundsatzes überhaupt und stellt damit alle Emanzipationsbewegungen in Frage. Die Willkürherrschaft über Individuen wird dann zur legitimen Umgangsform erklärt.
Der tötende Blick – Speziesismus
Für die trotzdem stattfindende Unterwerfung der nichtmenschlichen Tiere unter alle Interessen von Menschen prägte Richard Ryder Anfang der 70er Jahre den Begriff Speziesismus. Er beschreibt damit die „weitverbreitete Diskriminierung, die vom Menschen gegenüber anderen Spezies praktiziert wird.“ Damit soll auch die Parallele zu Rassismus und Sexismus gezogen werden. Es ist wichtig zu erkennen, dass die Ideologie des Speziesismus unsere ganze Weltsicht konstruiert (das zeigt sich schon in der undifferenzierten Redeweise von „den Tieren“ und dem damit verbundenen abwertenden Denken: „Tiere sind doch für uns da.“; „Es sind ja nur Tiere.“. So werden wir z.B. schon von klein auf an die Selbstverständlichkeit des „Fleischessens“ gewöhnt. Selten wird die Ausbeutung und Tötung nichtmenschlicher Tiere für Nahrung und Kleidung des Menschen, für Erforschung von Medikamenten, für Vergnügen und Sport prinzipiell in Frage gestellt. Das Anliegen der Tierbefreiungsbewegung ist es, diesen Umgang mit tierlichen Individuen prinzipiell in Frage zu stellen und die wahre Identität des nichtmenschlichen Tieres aus der Warenidentität des Fleisches/Tierprodukts/Tiermodells wieder herauszuschälen. Dies ist aber ein großer ideologiekritischer Prozeß, der dort ansetzen muß, wo die Gewalt gegen nichtmenschliche Tiere konzipiert wird – bei der Betrachtungsweise „der Tiere“. Speziesismus beruht auf der Konstruktion des Tieres als „ganz anderes Wesen“, als vom Menschen tief getrenntem, niederwertigem Lebewesen. „Das Tier“ wird zur Projektionsfläche für das Wilde, Dumpfe, Triebhafte, Unvernünftige, Defizitäre. „Der Mensch“ konstruiert sich als der Gegenpol des Tieres, als das vernünftige, geistige, moralische, höherwertige Wesen, das über wertes und unwertes Leben urteilen darf. Diese „Herrenmenschenmentalität“ ist die Grundlage des gigantische Systems der Tierausbeutung und blockiert zugleich ein Unrechtsbewußtsein. Durch soziale Konstruktion des Anderen wurde jahrhundertelang auch andere Wertehierarchien begründet: z.B. die Unterdrückung und Ausgrenzung der Frau. Speziesismus, Sexismus und Rassismus sind miteinander verflochten. „Denn so willkürlich, wie alle Tiere, bzw. einzelne Tierarten degradiert werden können, so willkürlich können auch alle Menschen bzw. einzelne Rassen und Gruppen degradiert werden: Ausländer, Juden, Frauen – es trifft immer die jeweils ‚Anderen'“ (A. Schwarzer). Auf die Emanzipation der Frauen und Menschen nichtweißer Hautfarbe muß logischerweise die „Befreiung der Tiere“ folgen.
Jenseits von Fleisch – Eine neue Sicht auf die Tiere
Im Jahr 2004 wurden in Deutschland 3,76 Mio Rinder, 46,3 Mio Schweine, 1 Mio Schafe, 547 893 t Masthähnchen, 1712 t Gänse geschlachtet. In diesen Statistiken gehen die nichtmenschlichen Tiere als Individuen unter. Doch jede/r Einzelne von ihnen war ein empfindendes und unverwechselbares Individuum, das nicht umgebracht werden wollte. Es ist Opfer der institutionalisierten speziesistischen Gewalt geworden, die jede/r einzelne FleischesserIn zu verantworten hat. In diesem Zusammenhang kommt die politische Dimension des Vegetarismus/Veganismus in den Blick. Die vegetarisch/vegane Lebenseinstellung bedeutet eine radikale Kritik der gesellschaftlichen Verurteilung von nichtmenschlichen Tieren zu restlos rechtlosen Nutzungsobjekten. Insofern hat die Tierrechtsidee ihren Platz auf dem gesellschaftspolitischen Feld und nicht in der Kuschelecke für Tierfreunde! Auch jetzt in diesem Moment läuft die Folter- und Vernichtungsmaschinerie der Tierausbeutung auf Hochtouren. „Sie kann nicht von einer Handvoll engagierter ‚Tierschützer‘ gestoppt werden, sondern nur von einem grundsätzlichen Umdenken und entsprechenden Handeln ‚des Menschen‘, einer ‚Wende‘, die das Tier von seiner Versklavung als Objekt menschlichen Irrsinns befreit“ (Sina Walden). Jede/r Einzelne kann etwas zu dieser Wende beitragen, indem er/sie sich selbst jenseits von Fleisch begibt und eine neue Sicht auf die nichtmenschlichen Tiere lebt.
Antispegruppe Leipzig